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Mit Kant durch die Krise

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Mit Kant durch die Krise

Desinfektionsmittel, Mehl, Babyfeuchttücher, Einweghandschuhe, Nudeln. Und natürlich: Klopapier. Alles weg. Was hätte Immanuel Kant wohl dazu gesagt?

Desinfektionsmittel, Mehl, Babyfeuchttücher, Einweghandschuhe, Nudeln. Und natürlich: Klopapier. Alles weg. Was hätte Immanuel Kant wohl dazu gesagt?

Im Tagesspiegel berichtet eine Kassiererin über den Engpass, der aus Sorge um den Engpass entstanden ist: „Das Toilettenpapier rissen sie uns nur so von den Paletten – inklusive Rangeleien untereinander – und die gerade mal zwölf kleinen Packungen Desinfektionsmittel, die wir geliefert bekommen haben, waren nach Minuten ausverkauft, bevor wir überhaupt die Chance hatten, jemandem den Weg dorthin zu weisen. (…) Wenn ich den Kunden erkläre, dass sie bestimmte Waren nur in handelsüblichen Mengen kaufen dürfen, fangen sie an, mich zu beschimpfen.“

Das liegt wohl am „Hang zum Bösen“ oder sogar „radikal Bösen“, der uns Menschen prägt. Torheit, Eitelkeit, Herrschsucht und Zerstörungslust gehören zu unserem Wesen: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Eine tiefe „Unvertragsamkeit“ zeichnet unsere Gattung aus, eine „ungesellige Geselligkeit“.

Diese Zitate stammen aus Immanuel Kants Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, verfasst im Jahr 1784. Mit dem anthropologischen Geburtsmal der „ungeselligen Geselligkeit“, das er als grundlegenden gesellschaftlichen Antagonismus versteht, legt der Königsberger Philosoph den Finger in die Wunde unserer gar nicht so vornehmen Eigenschaften.

Die Menschen können einander nicht leiden, sagt Kant, und mögen doch nicht voneinander lassen. Sie ziehen sich in die „Vereinzelung“ zurück – und spüren zugleich ein Ungenügen an ihr. Die dialektische Pointe: Ausgerechnet der Hang zur Zwietracht bringt uns dazu, uns zu vergesellschaften und uns eine Verfassung zu geben. Erst dem asozialen Wesenszug entspringt der Widerstand, der uns antreibt, unsere Talente zu entfalten, und der so letztlich den Fortschritt ermöglicht.

Kants Konzept trägt zum Verständnis der gegenwärtigen spannungsreichen Situation mehr bei, als es beispielsweise das blauäugige Menschenbild seines Zeitgenossen Jean-Jacques Rousseau vermag. Dieser hatte sich in seinem Diskurs über die Ungleichheit (1745) noch von der natürlichen Soziabilität und Harmoniesucht des Menschen überzeugt gezeigt.

Donald Trumps egoistischer Versuch, den USA die Exklusivrechte an einem von der Firma CureVac zu entwickelnden Impfstoff zu sichern, hätte Kant deshalb wohl ebenso wenig erstaunt wie die rücksichtslosen Hamsterkäufe und die unter Einsatz schlagkräftiger Argumente ausgetragenen Verteilungskämpfe um die letzten Packungen Toilettenpapier.

Bildquelle: Wikipedia

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