Im Land der Genausager
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Im Land der Genausager
Es gibt Füllwörter, die verbreiten sich schneller als Kopfläuse in einem Kindergarten. Aktuell in aller Munde: das Füllsel „Genau“.
In einem meiner ersten Meetings als Jobeinsteiger saß mir eine Beraterin gegenüber, die jeden meiner Sätze mit einem „Okay“ quittierte: „Wir sollten für den Empfang auch die Sektgläser branden.“ – „Okay.“
Das war nicht unbedingt als wohlwollende Zustimmung gemeint, sondern sollte eher ein bedächtiges Registrieren und Prüfen ausdrücken: „Okay …“, mit langgezogenem „ay“. Dieses „Okay“, das, wie sich bald herausstellte, auch bei allen anderen Kollegen gebräuchlich war, sollte dem Gegenüber signalisieren, dass man ihm genau zuhörte und das Gehörte bewertete, um sich schließlich damit einverstanden zu erklären. Das Beste: Mit „Okay“ konnte man ein konzentriertes Bei-der-Sache-Sein auch dann vorschützen, wenn man im Kopf ganz woanders war. Das „Okay“ war die Ausgleichsmasse in den Sprechpausen der anderen und sorgte für fließende, widerstandlose Übergänge.
„Genau“ ist das neue „äh“
Irgendwann nach dem „Okay“ kam das „Genau“. Das „Genau“ gilt als das neue „Äh“ oder „Ähm“ und hat inzwischen sogar die Aufmerksamkeit der Feuilletons auf sich gezogen.
Ich bin davon überzeugt, dass der Erfinder des „Genau“ einer meiner ehemaligen Vorgesetzten ist, ein großer Aufschneider und Tatsachenverdreher. Es kam vor, dass die Geschichten dieses Felix Krull von anderen hinterfragt wurden: „Wo haben Sie denn gewohnt, als Sie an der Sorbonne studiert haben?“ Antwort: „Genau.“ Oder, bei Rückfragen seiner Untergebenen auf wolkige Timings: „Wann findet die Pitch-Präsentation nun statt, am Freitag oder Montag?“ Antwort: „Genau.“
Die Frage nach dem geografischen Ort lässt sich freilich ebenso wenig mit „Genau“ beantworten wie eine Entweder-oder-Frage. Wohl deswegen ist mir dieses „Genau“ in bleibender Erinnerung. Die Chuzpe, die den Fragenden mit einem einzigen Wort abspeist, macht dieses zu einer rhetorischen Allzweckwaffe. Sie teilt durch das offenkundig Unpassende der Antwort mit: „Frage ja nicht weiter, und wenn du es doch tust, mach dich auf was gefasst.“ Eine als Bestätigung getarnte Kommunikationsverweigerung, vielleicht sogar eine Drohung.
Mittlerweile hat sich das „Genau“ sozialisiert und auf breiter Front Einzug in die Gespräche gehalten. Zunächst als Pausenfüller im eigenen Sprechfluss, anstatt eines Räusperns: Genau. Manchmal möchte man in Meetings ein Robert-Lembke-Sparschwein aufstellen und die Genausager für jedes „Genau“ mit 5 Euro zur Kasse bitten. Zweitens antworten wir mit „Genau“ auf geschlossene Fragen so, dass an der Stimmigkeit der in der Frage enthaltenen Information nicht der geringste Zweifel bleibt. (Steigerung: „Absolut!“) Drittens dient das „Genau“ als weichgespülter Gesprächseinstieg, etwa nach der Übergabe des Staffelstabs durch den Vorredner: „Genau, ich führe Sie jetzt durch den zweiten Teil unserer Präsentation“.
Nicht der Rede wert?
Wer „Genau“ sagt, meint es in Wirklichkeit gar nicht so genau. Denn meistens folgt auf das „Genau“ wenig Exaktes. Viele Genausager muten ihren Zuhörern zu, in einem unstrukturierten Informationsbrei herumzupaddeln.
Ob sich daher im „Genau“, wie Christian Geyer behauptet, ein – durch apriorische Bestätigung des anderen – „Bedürfnis nach Schonung“ artikuliert, kann man mit Fug und Recht bezweifeln. Wer richtig findet, was der andere sagt, unabhängig davon, was er sagt, ist zunächst einmal nichts anderes als ein Opportunist. Auch sein Gegenüber muss so viel Passgenauigkeit ja irgendwann verwundern: „Ich liege mit allem (!), was ich sage, nicht nur näherungsweise richtig, sondern genau (!) auf dem Punkt.“ Das erinnert nicht von ungefähr an die vom Informationsministerium Nordkoreas verbreitete Geschichte, Kim Jong Il, dem „geliebten Führer“, seien auf der ersten Golfrunde seines Lebens elf Asse gelungen.
Deshalb maskiert das „Genau“ sein genaues Gegenteil, nämlich Nachlässigkeit beim Sprechen und Zuhören. Es lässt den Sprecher unglaubwürdig erscheinen, wenn nicht sogar inkompetent.
Dazu passt unter umgekehrtem Vorzeichen eine Passage aus Botho Strauß’ Beobachtungsprotokollen Paare, Passanten (1984): „Vieler Reden kurzer Sinn ist eine Interjektion, ein Empfindungswort, wie die Grammatik verdeutscht, das dem Zuhörenden entschlüpft. Ein Ha, Oh, Au oder Achgott kann ein intimeres Verständnis der Rede des anderen verraten als eine umfängliche Antwort.“
So ist am Ende auch das „Genau“ ein „unwillkürliche(r) Hüpfer des Gemüts in den Mund“.
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